Pharma Innovation
05.10.2020 | Spotlight
Kleinere Chargen, individuelle Produkte – auch die chemische Industrie muss sich auf die Wünsche ihrer Kunden einstellen. Sie tut dies, indem sie ihre Produktionsanlagen flexibler gestaltet und modular aufbaut.
Die chemische Industrie gehört zu den Wirtschaftszweigen in Deutschland, die am meisten Energie verbrauchen. Basischemikalien wie Salzsäure werden jetzt schon sehr energieeffizient hergestellt, weil die Großanlagen kontinuierlich betrieben werden. Von Feinchemikalien und Pharmawirkstoffen werden jedoch oft nur wenige Tonnen pro Jahr benötigt. Sie werden deshalb in Mehrproduktanlagen im Batchbetrieb produziert. So eine Anlage nach der Produktion herunterzufahren, gründlich zu reinigen und für das nächste Produkt vorzubereiten kostet – sowohl Zeit, als auch Geld.
Beides könnte eingespart werden, wenn die Produktionsanlagen modular aufgebaut wären. Anlagenbestandteile nach Bedarf herumschieben und austauschen, gerade so wie Kinder es mit ihren bunten Plastikbausteinen machen, das ist der Traum aller Ingenieure.
Ganz so einfach wie im Kinderzimmer ist die Realität der Prozessindustrie aber leider nicht. Anlagenbetreiber, Modulhersteller und Automatisierer arbeiten daran, sich auf Standards, Methoden, Modelle und Vorgehensweisen zu einigen.
Eine modulare Anlage kann nur dann effizient betrieben werden, wenn die modularen Funktionseinheiten sinnvoll verschaltet, aufeinander abgestimmt, gesteuert und geregelt werden. Genau so, wie eine Sinfonie nur dann perfekt klingen kann, wenn im Orchester alle Musiker pünktlich zum Konzert erscheinen und zur richtigen Zeit die richtigen Töne spielen. Beides sind hochkomplexe Vorgänge und deshalb haben sich die Ingenieure für den ihren einen Begriff aus der Musik ausgeliehen: Orchestrierung.
Unter Orchestrierung verstehen die Ingenieure die systematische Methodik zum Zusammenführen einzelner modularer Prozesseinheiten und ihrer Services hin zu einer ablauffähigen Produktionsvorschrift sowie deren Ausführung. In einer Anlage erfolgt die Orchestrierung durch den sogenannten Process Orchestration Layer. Je nach Anwendungsfall kann die Orchestrierung dabei mit unterschiedlichen Methoden und Werkzeugen erfolgen. Allen gemein ist, dass sie das Module Type Package Konzept nutzen. Es definiert die gemeinsame Sprache, über welche der Process Orchestration Layer und die modularen Funktionseinheiten miteinander sprechen. In der Musik sind dies die Noten. Der Process Orchestration Layer gibt sozusagen den Takt für die einzelnen modularen Prozesseinheiten vor. Er ruft zur richtigen Zeit die gerade benötigten Funktionalitäten in den einzelnen modularen Prozesseinheiten ab. Sie werden im Module Type Package als Services bezeichnet, die vom Process Orchestration Layer gestartet, mit Sollwerten versehen, pausiert und gestoppt werden.
Die Anforderungen und Funktionen des Process Orchestration Layer sind je nach Branche und Anwendung unterschiedlich. Daher werden zukünftige Systeme des Process Orchestration Layers deutlich modularer und flexibler sein, um dem Anlagenoperator genau die Funktionen zur Verfügung zu stellen, die er zur Orchestrierung seiner modularen Anlage benötigt, in einer einheitlichen Arbeitsumgebung. Erste Ansätze in Produkten werden auf der ACHEMA 2022 zu sehen sein!
Die flexible Produktion ist, mit Verlaub, noch ein langer Weg. Flexible Produktionssysteme, erfordern einen Grad der Anpassbarkeit der zukünftig mehr und mehr erreicht wird. Auf dem Weg dahin beteiligt sich Siemens aktiv in der Standardisierungsarbeit mit unzähligen Partnern. Darüber hinaus unterstützt Siemens seine Kunden in der Einführung und Umsetzung des Standards in das umfassende Portfolio für Modul- und Anlagenbauer. Mit COMOS, SIMATIC TIA Portal und der S7-1500, als auch SIMIT bieten wir dem Maschinenbauer eine durchgängige Lösung zur Planung, Projektierung und Test von modularen Prozesseinheiten. Mittels COMOS, dem neuen webbasierten SIMATIC PCS neo oder SIMATIC eBR bzw. OpCenter Execution für Pharma/Chemie bieten wir auch eine breite Möglichkeit zur Realisierung des Process Orchestration Layers. Zusammenfassend bieten wir Produkte und Services über den gesamten Lifecycle für modulare Prozesseinheiten und Anlagen.
Autor
Andreas Stutz ist Entwicklungsingenieur bei der Siemens AG in Karlsruhe Mitautor des Standards des Module Type Package Konzepts. Er studierte Energie- und Automatisierungstechnik und promoviert berufsbegleitend im Bereich von Service-Choreografien in der modularen Automation.
Der Wasserzähler im heimischen Keller ist ein eher schlichter Vertreter seiner Art; in der Prozessindustrie müssen Durchflussmesser deutlich mehr können. Sie kommen mit -200°C kaltem Flüssiggas genauso zu recht wie mit 2000 Litern pro Stunde zähflüssigen Tomatenmarks und sind außerdem voll digitalisiert. Neben dem klassischen 4.20 mA/HART-Signal kommunizieren sie auch über die gängigen Protokolle wie Modbus, Foundation Fieldbus, Profibus sowie Profinet und sogar Bluetooth. Bisher gab es keinen herstellerübergreifenden Standard für die Integration von Modulen, deshalb müssen traditionell auch die Durchflussmessgeräte manuell in die IT-Umgebung der jeweiligen Anlage eingebunden werden. Das ist zum Teil mit hohem Aufwand verbunden, deshalb kooperieren die Ingenieure von KROHNE jetzt mit dem Technologieunternehmen Semodia. Deren MTP-Control Engine kapselt die Intelligenz des Coriolis-Massedurchflussmessgerätes OPTIMASS 6400 und beschreibt sie in einem Module Type Package konform zur VDI/VDE/NAMUR-Richtlinie 2658. Darin werden die Eigenschaften und Fähigkeiten des Systems semantisch erfasst, modelliert und kommuniziert. Die Semodia MTP-Control Engine kann auf beliebigen Feldgeräten eingesetzt werden. Damit ist ein OPTIMASS 6400 als Modul nun in der Lage, das Human Machine Interface und bestimmte Dienste über das herstellerneutrale Module Type Package bereitzustellen. Der Aufwand der signalbasierten Integration entfällt; stattdessen kann das Modul nun schnell und effizient integriert werden und seinen Part im Anlagenorchester spielen.
Damit leisten KROHNE und Semodia gemeinsam einen wesentlichen Beitrag zur Effizienzsteigerung modularer verfahrenstechnischer Anlagen auf allen Architekturebenen und helfen damit, Ressourcen in der Prozessindustrie einzusparen.
Autoren
Ralf Haut ist Technical Manager in der Global Industry Division Chemical der KROHNE Gruppe. Er war nach Abschluss des Studiums der Verfahrenstechnik in verschiedenen Funktionen für Unternehmen wie Bayer, Siemens und Honeywell tätig.
Anna Menschner hat nach Abschluss ihres Studiums der Elektrotechnik als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dresden gearbeitet. Seit Mai 2019 ist sie einer der Geschäftsführer der Semodia GmbH.
Ein Ledertuch, mit dem man das Kondenswasser aus einem Saxophon wischt, muss glatt und geschmeidig sein, während das Leder für einen Cellokoffer robust und wasserfest sein muss. Eine rohe Tierhaut in Leder zu verwandeln, das zu einer bestimmten Anwendung passt, erfordert in der Gerberei eine Menge Hightech-Chemie. Auf der ACHEMA 2018 wurde im Rahmen der Sonderausstellung "Process INDUSTRY 4.0: das Zeitalter der modularen Produktion" das Modell einer Pilotanlage zur Herstellung von Lederchemikalien vorgestellt. Jetzt ist das Verfahren reif für den Markt.
Die Pilotanlage zur In-situ-Produktion eines Nachgerbstoffes wird seit November 2017 von LANXESS bei und gemeinsam mit der Gerberei Heller-Leder im niedersächsischen Hehlen betrieben. Für die großtechnische Produktion der Container-Module hat sich LANXESS nun mit der Schweizer Hüni AG zusammengetan; LANXESS bringt seine know-how in chemischer Verfahrenstechnik ein, Hüni ist für den Anlagenbau und die Modulherstellung zuständig.
Bei dem modularen Verfahren werden Falzspäne aus der Lederproduktion direkt vor Ort in der Gerberei recycelt und zur vollautomatischen Herstellung von Nachgerbstoffen verwendet. Eine mittelgroße Gerberei produziert pro Tag etwa ein bis zwei Tonnen Falzspäne. Daraus kann eine vergleichbare Menge an flüssigen Nachgerbstoffen hergestellt werden. Die Abfälle werden zu hundert Prozent wiederverwertet; dabei bleiben keine Rückstände und es entstehen keine Emissionen. Außerdem entfallen die Kosten für den Transport der Materialien zu Recyclingunternehmen oder zur Entsorgung.
LANXESS stellt seit mehr als 100 Jahren Lederchemikalien her. Die Hüni AG entwickelt und produziert Fässer und Prozessautomationssysteme für die Gerberei und die lederverarbeitende Industrie. Die Pilotanlage wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Forschungsprojektes ReeL (Ressourceneffiziente Herstellung von Lederchemikalien) gefördert.
Für einen Spezialchemiehersteller wie Evonik sind Flexibilität und Umsetzungsgeschwindigkeit wesentliche Faktoren, um in einem sich ändernden Marktumfeld erfolgreich zu sein.
Evonik entwickelt daher das Konzept der modularen Anlagen bereits seit mehr als zehn Jahren intensiv – sowohl firmenintern als auch in öffentlich geförderten Projekten wie dem F3 Factory Projekt (EU Projekt 2009 – 2013). Dieses hatte zum Ziel, modulare Anlagen zu entwickeln, die sich dadurch auszeichnen, dass die modular strukturierte Anlage in einen Transportcontainer eingebaut und über eine standardisierte Docking-Station an eine definierte Infrastruktur angeschlossen wird. Diese Vollausprägung des modularen Anlagenkonzeptes stellt jedoch in den meisten Fällen nicht das erforderliche Optimum dar. Das zentrale Know-How bei der Umsetzung liegt darin, zu erkennen, welche Ausprägung der Modularisierung für die gestellte Aufgabe optimal ist und wie ein entsprechend angepasstes Konzept in die heutigen Anlagenlandschaft eingebunden werden kann.
Durch die flexible funktionale und örtliche Einsatzmöglichkeiten lassen sich zudem Apparate in Mehrproduktanlagen effizienter als bisher nutzen. Insbesondere gilt dies heute für die Auftragsherstellung von Wirkstoffen, bei der der Wechsel von einer konventionellen Batchproduktion hin zu kontinuierlichen Herstellverfahren eine immer größere Rolle einnehmen wird.
Wichtig für den Erfolg des modularen Ansatzes ist daher die Möglichkeit der nahtlosen Einbindung und Orchestrierung modularer Anlagen in bestehende konventionelle Anlagenkonzepte zum Beispiel über standardisierte Schnittstellen. Die Anbindung von Package Units – quasi ein Modul – an bestehende konventionelle Anlagen stellt hier ein gutes Beispiel dar, wie dies gelingen kann. Neben solchen erfolgreichen UseCases ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit und enge Abstimmung von Betreibern, Automatisierern und Equipment-Herstellern Grundlage, um das modulare Anlagenkonzept zum Erfolg zu führen. Es ist damit zu rechnen, dass ein gleitender Übergang von der heutigen durch monolithische Anlagen geprägten Landschaft hin zu modularen Anlagen stattfinden wird. Diesen Übergang zu gestalten wird in den nächsten Jahren eine zentrale Aufgabe.
Autoren
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