01.03.2022 | Digital Innovation

Interview mit Eckard Eberle | Siemens

Die Digitalisierung definiert die Art und Weise, wie die Industrie arbeitet, in vielen Bereichen neu. Aber was bringt die Zukunft? Wir haben Eckard Eberle, Chief Executive Officer Siemens Process Automation, nach seinen Ansichten gefragt.

ACHEMA Inspire: Zunächst einmal: Was erwarten Sie von der nächsten Stufe der Digitalisierung in der Prozessindustrie?

  • __Eckard Eberle: Seitdem der Begriff "Industrie 4.0" auf der Hannover Messe 2011 als entscheidender Bestandteil der Digitalisierung in der Prozessindustrie etabliert wurde, sind große Fortschritte gemacht worden. Der Fokus lag von Anfang an auf der Integration von Anlagen- und Betriebsdaten durch integriertes Engineering. Aus diesem anfänglichen Konzept haben sich zwei Weiterentwicklungen herauskristallisiert, die durch die fortschreitende Digitalisierung beflügelt werden und diesen Prozess gleichzeitig vorantreiben. Die erste ist die Anlagenleistung in Verbindung mit Cloud-Technologien. Das zweite - und unser aktueller Schwerpunkt - ist die Simulation im Rahmen des Anlagenbetriebs.
    Unsere Entwicklungen und branchenspezifischen Lösungen orientieren sich inzwischen sehr stark an den Anforderungen unserer Kunden. In den Anwendungsfällen geht es um Flexibilität (zum Beispiel bei der Variation von Losgrößen) und die Optimierung von Qualität und Produktivität. Dies kann in der Regel durch Simulationen effektiv umgesetzt werden.

ACHEMA Inspire: Wie wichtig sind integrierte Lösungen für den Erfolg?

  • __Eckard Eberle: Wir bieten seit jeher einen hohen Integrationsgrad über alle Systeme hinweg - das ist seit 25 Jahren das Alleinstellungsmerkmal der TIA. So ist unser Prozessleitsystem SIMATIC PCS 7 eines der offensten auf dem Markt. Damit ermöglichen wir unseren Kunden das reibungslose Zusammenspiel von Systemen unterschiedlicher Hersteller in modularen Anlagen. Die chemische Industrie war anfangs skeptisch, ob sich ein solcher Ansatz angesichts der Komplexität der Digitalisierung als Alternative zur One-Stop-Shop-Lösung realisieren lässt. Doch der Erfolg gibt uns recht. Deshalb werden wir diese Strategie der Simulation des gesamten Lebenszyklus durch eine umfassende vertikale und horizontale Integration weiterverfolgen.
    Das gilt auch für unser neues Leitsystem, SIMATIC PCS neo. Wir freuen uns, dass wir mit den hier adressierten Themen voll im Trend liegen. So bietet das System beispielsweise eine webbasierte Mehrbenutzerfähigkeit, die das Engineering erleichtert. Ein weiteres wichtiges Merkmal für Anwendungen in der Feinchemie und Pharmazie ist die native Unterstützung von MTPs und die damit verbundene Modularität.

ACHEMA Inspire: Welches Potenzial hat IOT, z.B. im Hinblick auf eine nahtlose Verbindung vom Sensor zur Cloud?

  • __Eckard Eberle: In der Prozessindustrie ist der lange Lebenszyklus einer Anlage oft eine zentrale Herausforderung. Die Digitalisierung im Brownfield hat sehr spezifische Anforderungen. Wir sehen aber auch, dass die Digitalisierung hier in den letzten Jahren massiv an Fahrt gewonnen hat.
    Und warum? Weil es intelligente Sensoren gibt, die eine Digitalisierung ermöglichen, egal wo und wann sie in einem Ökosystem benötigt werden. Ein Beispiel: Die Multisensorik in einer der schnellsten Abfüllanlagen der Welt konnte in kürzester Zeit einen Mehrwert schaffen, der Coca Cola HBC hilft, den Abfall zu begrenzen, den Wasserverbrauch zu reduzieren und die Emissionen zu senken.

ACHEMA Inspire: Welche Herausforderungen müssen bei der Konvergenz von IT und OT bewältigt werden?

  • __Eckard Eberle: Die zunehmende Vernetzung von IT und OT ist ein wichtiges Element für eine erfolgreiche digitale Transformation und sollte wirksame Maßnahmen zur Cybersicherheit beinhalten. Sie werden immer enger zusammenwachsen, insbesondere wenn es um 5G geht.

ACHEMA Inspire: Ich erinnere mich, dass Sie in der Vergangenheit sagten, die Basis dafür sei das Domain-Know-how. Können Sie das näher erläutern?

  • __Eckard Eberle: Ein tiefes Verständnis für den Markt und die Bedürfnisse der Kunden. Nur so kann man Dinge entwickeln, die wirklich einen Mehrwert schaffen: Industrie 4.0 zum Leben zu erwecken ist eine Sache, die Umsetzung ins Rollen zu bringen eine ganz andere. Dass zehn Jahre später schon so viel passiert ist, darauf können wir alle zu Recht stolz sein. Industrie 4.0 leuchtet uns in vielen Bereichen der Produktion den Weg.
    Wir haben uns damals versprochen, dass wir durch den Aufbau neuer vernetzter Systeme auf die bestehende Systemlandschaft die Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit einer Anlage deutlich erhöhen können. Vor drei Jahren wurde dieses Projekt noch sehr skeptisch gesehen, aber jetzt sehen wir Schritt für Schritt, dass es funktioniert. Ein gutes Beispiel ist die Impfstoffproduktion. Dank der Digitalisierung hat das Werk in Marburg gemeinsam mit BioNTech innerhalb von fünf Monaten auf Impfstoffproduktion umgestellt.
    Das ging nicht "einfach so", sondern wir haben eine komplette MES-Schicht mit papierloser Dokumentation eingebaut, diese gekoppelt, das Leitsystem überarbeitet - alles teilweise nur vom Homeoffice aus. Das wäre vor ein paar Jahren noch völlig unvorstellbar gewesen. Industrie 4.0 ist also ein enormer Geschwindigkeitsbooster für die Umsetzung und den Betrieb. IT und OT wachsen erst durch die Digitalisierung zusammen.

ACHEMA Inspire: Wie wichtig ist es im Hinblick auf den Erfolg, den Einsatz von Zukunftstechnologien zu berücksichtigen?

  • __Eckard Eberle: Das war im Zeitalter von Industrie 1.0 genauso wichtig wie heute, mitten in der Trendwende von Industrie 4.0. Digitalisierung und damit Industrie 4.0 bedeutet perfektes und durchgängiges Datenmanagement. Daten können nur fließen, wenn die Konnektivität gewährleistet ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Kommunikation ein sehr wichtiges Thema geworden ist. Das gilt im privaten Bereich, wo das Mobiltelefon mit entsprechendem Netz unverzichtbar ist, und es gilt in der Industrie. Allerdings gibt es in der Industrie natürlich sehr spezifische Anforderungen. Deshalb sehen wir private 5G-Netze als einen wichtigen Treiber im Rahmen der digitalen Transformation.

ACHEMA Inspire: Kann man sagen, dass die Art und Weise, wie wir arbeiten und wie wir zusammenarbeiten, von den Technologien bestimmt wird und diese die Technologien bestimmen?

  • __Eckard Eberle: Die Digitalisierung ist zu groß, man kann sie nur gemeinsam gestalten. Wir müssen uns alle an einen Tisch setzen, unabhängig von Organisation und Funktion. Für Partnerschaften gibt es keine Grenzen. Das gilt intern, wo wir und andere ganze Geschäftsbereiche auf eine agile Struktur umgestellt haben. Und es gilt für die Zusammenarbeit mit Kunden und Partnern.
    Ein spannendes Thema in diesem Zusammenhang ist die gemeinsame Entwicklung von Industriestandards, die Wettbewerber gemeinsam mit ihren Kunden entwerfen, denn nur so können wir tatsächlich einen Mehrwert für die Branche schaffen. Ein Beispiel, an dem viele von uns seit langem arbeiten, ist MTP als Basis für die modulare Produktion. Hier arbeiten wir mit vielen Kunden zusammen und natürlich auch in den entsprechenden Gremien.

ACHEMA Inspire: Ich möchte Sie nach der Rolle des so genannten Digital Workers fragen und wie dieser mit der virtuellen und der physischen Welt interagiert.

  • __Eckard Eberle: Der Digital Worker vereint die reale und die virtuelle Welt. Es handelt sich um eine Transformation, die die Effizienz und Sicherheit sowie die Reibungslosigkeit der Prozesse und die Qualität der Informationen erhöht. Der Digital Worker schafft eine neue Dimension der Steuerung, in der das gesamte System für Außendienstmitarbeiter und Remote-Experten nahezu transparent ist, während sein vorausschauendes Anlagenmanagement zu einem kontinuierlichen und störungsfreien Ablauf aller Anlagenprozesse führt. Es gibt eine Lösung für die Digitalisierung aller Arbeitsabläufe in allen Anlagen; dies bedeutet ein Ende der Stift-und-Papier-Verfahren, einen einfachen Zugang zu Informationen, so dass das Schlüsselpersonal, wie Bediener und Techniker, effizienter arbeiten kann.
    Es besteht ein ständiger Druck, die Betriebs- und Wartungskosten zu senken. Die Wartungsteams müssen den Betrieb der Anlage aufrechterhalten und stehen gleichzeitig unter erheblichem finanziellem Druck, und es ist möglich, Zeiteinsparungen von bis zu 30 Prozent zu erzielen. Es gibt noch andere Dinge zu bedenken, wie die Zentralisierung und Auslagerung von Betrieb und Wartung.
    Für die Mitarbeiter ist es schwierig, den richtigen Ort zu finden und das richtige Gerät schnell zu identifizieren - das gefährdet die Anlage und ihren sicheren Betrieb. Und dann ist da noch das Problem der großen und fragmentierten Datenbestände. Während Daten durch intelligente Geräte, z. B. IoT, immer besser verfügbar werden, ist es mühsam - wenn nicht gar unmöglich -, gleichzeitig und effizient auf sie zuzugreifen. Oft dominieren noch immer Stift und Papier.

| Originalversion veröffentlicht in ACHEMA Inspire, Ausgabe März 2022/Deutsche Übersetzung durch DECHEMA Ausstellungs-GmbH |

Autor

Richard Burton

Editor / World Show Media

www.worldshowmedia.net

Schlagwörter in diesem Artikel:

#digitalisierung

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